Kolbe-Illenberger

Zwillingsflüsse, die einen Ozean erschaffen

16. März 1984, Friedberg: Das Publikum des Kulturzentrums begrüßt die beiden 27-Jährigen, die sich in weißen Hemden und hellen Stoffhosen vor ihren Verstärkertürmen und Effektgeräten auf Klappstühlen niedergelassen haben, mit freundlichem Applaus. Beide haben ihre Ärmel bis zum Bizeps hochgekrempelt; der eine noch eine Spur glatter und korrekter als der andere. Martin (oder ist es Ralf?) beugt sich zum Mikrofon vor: „Also dann … Viel Spaß!“

Er lehnt sich zurück, sucht den Blick seines Gegenübers.

Beide schließen die Augen, berühren sanft die Saiten ihrer halbakustischen Gitarren, erzeugen fast unhörbar leise Töne, die langsam anschwellen, harmonische Gebilde formen, lauter werden, in wachsendem Tempo Rhythmus und Melodie erkennen lassen, auf einen gemeinsamen Akkord hin brechen, sich abwechselnd entfernen und einander wieder begegnen, miteinander, ineinander fließen, sich im gemeinsamen Spiel verzahnen, sich über große Bögen erstrecken, dunkel hallende Klangflächen mit kristallinen Läufen überfliegen, synchron, aber nie identisch, immer wieder aufs Neue anschwellende Glissandi, parallel an Höhe gewinnend, abstürzend, sich vereinigend in einem Schlussklang, der in einer großen, verebbenden Welle ausläuft. Oh, und das ist erst der Auftakt.


Zwillingsflüsse, die einen Ozean erschaffen. Anders ausgedrückt: eine „weiche Droge“, wie ihr Freund und Manager Veit Bremme die beiden genannt hat. Bereits nach den ersten Minuten hat das Publikum das Gefühl, einer Sinfonie gelauscht zu haben.

Typische Reaktion bei einem Konzert von Kolbe und Illenberger: Die Gitarristen unter den Zuhörern sind ergriffen, die Neulinge sind begeistert und gleichermaßen verwirrt: Welchem Genre soll man dieses Phänomen zuordnen? Jazz? Dafür ist zu viel Rock dabei. Folk? Es fehlt jegliche Lagerfeuer-Romantik und Mitsing-Gelegenheit. Free-Style? Dazu sind die Kompositionen zu strukturiert. Kammermusik gar? Verträgt sich nicht mit den exzessiven Improvisationen. „New Age“-Musik wiederum ist in den Siebzigerjahren noch gar nicht erfunden. Als „eindrücklich, melodisch, bisweilen psychedelisch“ beschreibt Ralf Illenberger selbst die Stücke. Also was nun? „Von allem etwas und noch mehr“, behilft sich der renommierte Musikjournalist Manfred Gillig.

„Die Frage nach der Schublade hat uns von Anfang an begleitet und wir wussten nie eine Antwort darauf“, sagt Martin Kolbe. „Wir nannten es einfach ‚Musik‘.“ Aha. Und an wen sollte sich dieses undefinierbare Etwas richten? „Wir selbst waren uns immer die wichtigste Zielgruppe.“ Er grinst.


Waiblingen, 17. Oktober 1976: Bei der Eröffnung eines Gitarren- und Plattenladens in der Waiblinger Altstadt gibt das Duo „Jürgen & Ralf“ einige Stücke zu Besten. Unter den Zuhörern: Martin Kolbe, dem ein Freund schon länger in den Ohren lag, einmal mit einem gewissen Ralf Illenberger zu spielen. Bei Sekt und Salzstangen ergibt es sich heute, und es geschieht, erinnert sich Martin Jahrzehnte später, „etwas Unglaubliches: eine fantastische musikalische Übereinstimmung wird sehr bald deutlich, und es fällt uns schwer, aufzuhören“.

Häufiger als andere Menschen erleben Musiker solch Liebe auf den ersten Blick, genauer: auf den ersten Ton. Die traumwandlerisch sichere Vertrautheit von Anfang an, die sich nicht erklären und schon gar nicht bewusst herbeiführen, sondern nur in beglückenden Momenten erleben lässt. Martin und Ralf, beide 19 Jahre alt, teilen dieses Wunder und verabreden sich auf der Stelle einige Tage später bei Martin.
Martin Kolbe, ehemaliger Schlagzeuger, ist im Südwesten zu diesem Zeitpunkt als Sologitarrist schon ein regionaler Star mit seinen halsbrecherischen Fingerpicking-Versionen von Popklassikern wie „Mrs Robinson“ und zwei eigenen Langspielplatten. Auch Ralf Illenberger ist in dieser Zeit mit seinem ersten Partner Jürgen Kirsch im Studio. (Vier Jahrzehnte später sind Martin Kolbes frühe Alben „The Last Lust of Billy the Kid“, „37 ¼“ und „Blue Moment“ sogar für findige Raritätensammler praktisch unmöglich aufzutreiben, ebenso wie Ralf Illenbergers und Jürgen Kirschs LP „Des Sängers Vorüberzieh‘n“ von 1977 – aber das nur am Rande.)

Die geradezu magischen Anfänge des künftigen Erfolgsduos fühlen sich in Martins lebhafter Erinnerung an, „als hätten wir gemeinsam einen Schatz entdeckt“. Die beiden können sich am Abend ihres ersten Treffens kaum trennen, spielen miteinander wie im Rausch, und Räusche soll es fortan noch viele geben. 


Der in jungen Jahren klassisch geschulte Ralf, mit aufgeschlossenem Blick unbeschwert stets auf der Suche nach neuen Ufern, und der mal introvertierte, mal aggressive, oft melancholische Autodidakt Martin ergänzen sich mit verblüffender Selbstverständlichkeit. Frei improvisierend werfen sie einander die Ideen-Bälle zu, streuen kleine Versatzstückchen aus dem jeweils eigenen musikalischen Gedächtnis ein und wechseln scheinbar mühelos zwischen Führung und Begleitung. Nicht auszumachen, wer wofür verantwortlich ist. Zu eng verweben sich die Klänge.

Einmal die Woche ist dafür Zeit, denn Martin steht vorm Abitur, während Ralf an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg eingeschrieben ist und daneben vom Gitarrenunterricht lebt. Dennoch entsteht bei jedem Treffen eine neue, immer höchst ungewöhnliche Komposition, festgehalten auf Martins neuem Vierspur-Tonbandgerät und alle von einer Qualität, welche die beiden selbst verblüfft – instrumental, ohne Vorgaben oder Ziele, aber nach staunend-vorsichtigen Anfängen bald mit der klaren Vision, künftig zu zweit professionelle Wege gehen zu wollen.

Die Magie ihrer Stücke schafft dabei das Unmögliche, nämlich Herz und Hirn gleichermaßen anzusprechen. Diese Zusammenarbeit bestätigt einmal mehr, dass ein Ensemble – und sei es nur ein Duo – im Idealfall mehr ist als die Summe seiner Teile: Illenberger mit seiner Gurian-Gitarre und Kolbe an der Martin D-28 erzeugen einen orchestralen Sound, wie er nie zuvor zu hören war. Bezeichnenderweise bleiben die beiden diesen Hauptinstrumenten bis zum Schluss treu, auch wenn später ab und zu E-Gitarren von Gibson und Fender, eine Takamine mit Nylonsaiten und eine Ibanez-12-String zum Einsatz kommen.
Ihr Abtauchen in diese neuen Klangmeere beglückt allerdings zunächst vor allem die von ihrer Tiefe Berauschten selbst. Sie genießen es und tasten sich behutsam weiter vor – als wollten sie gefasst sein auf das, was sie erwartet: nicht weniger als eine musikalische Offenbarung, die sie auf Konzertreisen in 40 Länder der Erde führen wird. 


So weit ist es freilich noch lange nicht. Auf Schloss Hohentübingen, beim 3. Tübinger Folk- und Liedermacher-Festival mit dem Motto „Tanz unter dem Freiheitsbaum“, stellen die beiden am 4. Juni 1977 ihre Musik erstmals öffentlich vor, und erst vom Herbst 1977 an finden regionale Auftritte von Martin Kolbe „mit Ralf Illenberger“ statt, wie aufgeklebte Papierstreifen auf den Plakaten verkünden.

Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Das neu gegründete, musikereigene Label Mood Records mit Sitz in Stuttgart nimmt die beiden im Januar 1978 unter Vertrag und gewährt ihnen großzügige Konditionen, Tourbus-Nutzung inbegriffen.


März 1978: Bei den Schallplattenaufnahmen über sieben Tage im Stuttgarter Tonstudio Zuckerfabrik hinweg verfeinern die Musiker ihre Technik: Sie doppeln die meisten Spuren, indem sie zu den ursprünglichen Aufnahmen den jeweils selben Part exakt noch einmal einspielen, dazu kommen weitere Spuren für Soli oder etwa zwölfsaitige Gitarren für bestimmte Klangfarben. Manche Stücke werden so von bis zu einem Dutzend Tonspuren getragen – fortan das Markenzeichen der Musik von Kolbe und Illenberger. Unterstützt wird das Duo bei fünf seiner Kompositionen vom Jazzpianisten und Keyboarder Wolfgang Dauner, Eberhard Weber am Bass, der Sängerin Anne Haigis und dem Gitarristen Friedemann Witecka.

Mai 1978: „Waves“ erscheint auf Mood Records, exklusiv erhältlich bei Zweitausendeins. Der Jazz-Kollege Volker Kriegel nennt die Produktion „ganz lässig, sehr selbstbewusst und manchmal auch witzig“ und hebt die „exzellente handwerkliche Verarbeitung“ hervor. „Technisch bereits perfekt“, heißt es in der „Frankfurter Rundschau“. Das Album wird für den Deutschen Schallplattenpreis nominiert, ausverkaufte Konzerte folgen, Radioauftritte, Fernsehen. Kritiker und Publikum überschlagen sich vor Begeisterung.

Herbst 1978: Eine gemeinsame Tournee mit dem United Jazz & Rock Ensemble wird zum Publikumserfolg.


April bis August 1979: Aufnahmen zur zweiten Platte, wieder mit Unterstützung durch Wolfgang Dauner und Eberhard Weber, aber ohne weitere Rhythmusgruppe. „Wir sind gezwungen, differenziert zu spielen, das Schlagzeug quasi im Kopf zu haben“, erklärt das Duo die Besetzung.

September 1979: TV-Aufzeichnung für den WDR-„Rockpalast“.

Februar 1980: Veröffentlichung von „Colouring the Leaves“ bei Mood Records. „Sounds“ lobt „eine Klangvielfalt (…), die manchmal kaum glaublich ist“. „Hifi Stereophonie“ vernimmt „ungeheure Leichtigkeit, die gepaart ist mit erstaunlicher Erfindungsgabe“ und „Die Zeit“ konstatiert: Auf seinem zweiten Album „feiert das akustisch gezupfte, unverstärkte Kollektiv seine leisen Triumphe“.

April/Mai 1980: Süddeutschland-Tournee und Live-Aufnahmen mit Wolfgang Dauner.

Januar bis März 1981: Tournee von Kolbe und Illenberger im Auftrag des Goethe-Instituts quer durch Asien. 


Februar 1981: „Live KID“ kommt als Trio-Album mit Wolfgang Dauner wieder bei Mood Records heraus und präsentiert dem Gitarristen Pit Budde im Stadtmagazin „Ketchup“ zufolge „… schöne, meditative Musik, bei der man sich hinsetzen, zurücklehnen und bei Bedarf einen durchziehen sollte“. Das Berliner Magazin Zitty befindet: „Technisch ungemein ausgefeilt und präzise.“

April bis November 1981: Aufnahmen zum vierten Album „Flieger“, das im September 1982 vom Label Wundertüte auf den Markt gebracht wird. „So flink die Finger manchmal die Griffbretter rauf- und runterturnen – das Duo verkneift sich grelles, leeres Virtuosentum“, schreibt der Rezensent der „Zitty“ und bilanziert: „Eine schöne Platte, die sich mit ‚Andreas‘ einen freundlichen Seitenhieb auf Herrn Vollenweider erlaubt: Guck mal, das können wir auch!“

Zwischen den Studioarbeiten: Radio- und Fernsehauftritte, Gastspiele und rund 100 reguläre Auftritte pro Jahr als Duo.


April 1982 bis August 1983: Aufnahmen zu Album Nr. 5, wieder mit Beteiligung der Sängerin Anne Haigis. „Diese Musik ist zu uns gekommen, nicht wir zu ihr“, schreiben Kolbe und Illenberger am Ende der Sessions. „Die eigentliche Arbeit bestand darin, sich zu öffnen für das, was uns immer umgibt.“

März 1984: Veröffentlichung von „Tronic“ bei Wundertüte, das Titelstück ist eine Hommage an den experimentellen Gitarristen und Komponisten Robert Fripp. „Ein eindringliches und eigenwilliges Klanggemälde, das nicht immer leicht zu konsumieren ist“, warnt die Plattenfirma in ihrem Pressetext arglose Fans vor. Das Album spiegelt mit Anklängen an Punk und New Wave ein angstvolles Zeitgefühl wider, das für viele durch den Nato-Doppelbeschluss und Öko-Ängste bestimmt wird. Die „Münchner Stadtzeitung“ beschreibt das Ergebnis so: „Einschmeichelnde Töne, wie man sie landläufig von einem Gitarrenduo gewöhnt ist, sind auf ‚Tronic‘ absolut in der Minderzahl. Stattdessen vermitteln Kolbe/Illenberger in sehr komplexen Kompositionen ein sehr vielschichtiges, in seiner Konfusion und Aggression bedrohendes und doch faszinierendes Weltbild.“ Aus der Rezension in „Guckloch“: „… so muss man den beiden bescheinigen, dass Themen wie Umweltzerstörung, Overkill, Entsorgung und soziale schwarze Löcher (…) mit einem Riesenaufwand an Instrumenten und elektronischen Hilfsmitteln zu einem apokalyptischen Klangmosaik geronnen sind. Der Zuhörer fällt bisweilen bodenlos tief.“ 


Januar 1985: Trio-Aufnahmen mit Wolfgang Dauner, der drei eigene Kompositionen beisteuert, erstmals nicht im Stuttgarter Tonstudio Zuckerfabrik, sondern im Ludwigsburger Studio Bauer und in teurer digitaler Mehrspurtechnik. Kolbe und Illenberger kehren zu ihrem bewährten Stil zurück, müssen aber aus Zeitdruck auf das bei ihren früheren Produktionen übliche mehrfache Aufnehmen ihrer Instrumentalspuren weitgehend verzichten.

Juli 1985: „KID – Second Step“ erscheint, nun wieder bei Mood Records im Vertrieb von Zweitausendeins und wird von den Anhängern des Duos als Rückkehr zu den Wurzeln empfunden. Auch „Stereoplay“ ist erfreut: „Mit ihrem Erfolgsrezept, Folklore, klassische Gitarrenmusik und Rockelemente zu vermengen, wobei ein Quäntchen swingender Jazz und eine gehörige Portion elektronisch schwebender Sphärenklänge erst die richtige Würze verleihen, liegen die beiden Schwaben immer noch richtig.“ Auch „Soundcheck“ lobt die Platte: „Natürlich spielen da wieder drei Vollblut-Musiker drauflos – stets virtuos, versteht sich – als gelte es, einen Meilenstein unvergänglicher Klangkunst zu schaffen.“

Januar/Februar 1986: Nahost- und Afrikatournee im Auftrag des Goethe-Instituts.

Dezember 1986: Kolbe und Illenberger nehmen ihr siebtes Album in den Breisgauer Calren Studios auf.

Februar 1987: Tournee durch Zypern, Griechenland und in die Türkei im Auftrag des Goethe-Instituts. Zu einer Tour durch Südamerika später im Jahr kommt es nicht mehr.


April 1987: „7“ mit sieben Stücken wird von Mood Records herausgebracht als „letztes gemeinsames Album“ von Kolbe und Illenberger annonciert. „This music was made for your internal movies“, schreiben die Musiker. „Erstaunlich bei ihnen wieder die Klangfülle, diese Opulenz, die professionelle Sicherheit auch im Umgang mit dem Zubehör“, stellt das „Jazz Podium“ fest und fasst damit Kolbe und Illenbergers Jahrzehnt in musikalischer Hinsicht zusammen.

Das Finale erlaubt den Rückblick und die Erkenntnis: Ihre fast schon symbiotische Beziehung zueinander ermöglichte das Klangwunder der inzwischen 30-Jährigen. Nicht nur beruflich, sondern auch privat nach eigener Aussage „permanent zusammen“, komponierten und arrangierten sie ihre Musik gemeinsam, lebten zeitweise mit ihren beiden Familien zusammen in einem Haus und wurden fast gleichzeitig Väter – Ralf von Anna und Martin von Lisa –, schenkten einander unabgesprochen dieselben Platten zu Weihnachten … Ein Duo total in allen Lebensbereichen. Wie weit ist es von da zum Duo fatal?

Die Erfahrung lehrt: Derart raumgreifende musikalische Verbindungen sind eher nicht für die Ewigkeit gemacht; selbst Mick Jagger und Keith Richards wussten stets, warum sie sich zwischen ihren Tourneen ungern begegneten. Das Gesetz der Vergänglichkeit gilt am Schluss selbst für den Inbegriff der musikalischen Harmonie, das Duo Kolbe und Illenberger.

Vor dem – unerwarteten – Ende soll allerdings noch einmal ein Höhepunkt stehen. Ein Jahrzehnt nach Etablierung ihrer Partnerschaft möchten Martin Kolbe und Ralf Illenberger die gemeinsame Zeit hochleben lassen – mit einem großen Jubiläumskonzert vor heimatlichem Publikum … 


11. Dezember 1986: „999 Konzerte sind gespielt. Das Tausendste wollen wir feiern! Mit einem Galaprogramm unter Mitwirkung besonderer Freunde im Theaterhaus in Stuttgart“, steht auf der Einladung zum (geschätzt) eintausendsten Auftritt von „Kolbe und Illenberger“.

Wer beim Jubiläums-Event in Stuttgart dabei ist, erinnert sich später an ein (be?)rauschendes Fest, bei dem die Gitarristen von Wolfgang Dauner am Flügel unterstützt werden, Büdi Siebert an Saxofon und Percussion, dem Saxofonisten Pit Widmer, Uli Gutscher an der Posaune, dem Bassisten Thomi Jordi und Andreas Witte am Schlagzeug. Martin singt an diesem Abend mehr als üblich, die „Stuttgarter Nachrichten“ vermerken irritiert „Pop-Einschübe, die wohl als Persiflage gedacht waren“, kurz: auch dies ist wieder ein Abend der Überraschungen jenseits aller Routine; zugleich der Auftakt zu einigen Testgigs mit Bass- und Schlagzeug-Begleitung Anfang 1987, die neue Wege aufzeigen.

Doch wie eine Sonne kurz vorm endgültigen Verlöschen noch einmal besonders hell erstrahlt, folgt das Ende von Kolbe und Illenberger nur wenige Wochen darauf. Martins jahrelange seelische Labilität hat sich zu einer mit dem professionellen Musikeralltag unvereinbaren Lebenskrise ausgewachsen. Das letzte gemeinsame Konzert in Rielasingen am Bodensee am 14. März 1987 markiert den Endpunkt eines Jahrzehnts der musikalischen Partnerschaft – zum Entsetzen der Fans. 


25. Mai 2014: In der Universität Hamburg findet das Abschlusskonzert der „Bipolar Roadshow“ statt – auf der Bühne Martin Kolbe mit den Gästen Ralf Illenberger und Peter Autschbach, dem drittem Gitarristen.
Was nur wenige wissen: In den vergangenen Jahren haben sich Kolbe und Illenberger menschlich (wenn auch nicht aktiv-musikalisch) längst wieder angenähert – Martin inzwischen in der Schweiz beheimatet und nach einem Soloalbum („White Light“, 1991) musikalisch im Ruhestand, Ralf als erfolgreicher New-Age-Musiker (seit 1987 mit seiner Band Ralf Illenberger’s Circle, insgesamt 16 Album-Veröffentlichungen und je eine Nominierung für den Grammy und den Deutschen Schallplattenpreis) und Produzent in Arizona. Seit 2010 spielt Ralf mit dem leidenschaftlichen Kolbe/Illenberger-Fan Peter Autschbach zusammen, gibt Konzerte mit altem und neuem Material und hat mit ihm zwei Alben aufgenommen („No Boundaries“, 2012; „One Mind“, 2014).

Und nun treten sie sozusagen als dreiköpfiges Duo im Rahmen einer Veranstaltungstournee auf, die Betroffene, Angehörige und Interessierte über bipolare (früher: manisch-depressive) Störungen informiert. Nach Vorträgen und Erfahrungsberichten bildet den unterhaltsamen Höhepunkt an jedem Abend ein Konzert mit Stücken von Martins neuem Album „Songs from the Inside“, in dem er seine Erfahrungen mit der Erkrankung und in der Psychiatrie thematisiert. Als mit der letzten Zugabe „Break“ einer der herausragenden Kolbe/Illenberger-Klassiker ertönt, hat der eine oder andere Zuhörer Freudentränen in den Augen … 


So wie vielleicht mancher beim Auspacken dieser mit allen Highlights des Kolbe/Illenberger-Œuvres vollgepackten Doppel-CD. Denn zum Erstaunen, aber auch zur Freude der beiden Musiker ist das Interesse an ihrem Werk als Duo über all die Jahre nie abgerissen. Die alten Vinyl-Originale und mehr noch die in den Achtziger- und Neunzigerjahren von fünf ihrer Alben in geringer Stückzahl aufgelegten CD-Ausgaben erzielen unter Liebhabern Verkaufspreise von 300 Euro und mehr.

Da überraschte der Erfolg des 2011 von Peter Autschbach im Verlag Acoustic Music Books herausgegebenen „Best of“-Songbooks mit 13 akribisch rekonstruierten Noten-Transkriptionen nicht, enthüllt es doch dem gitarrenkundigen Fan endlich (fast) alle Geheimnisse um halsbrecherische Läufe, Fingerpicking-Techniken und Open Tunings.

Was bleibt? Die Einflüsse von Kolbe und Illenberger sind bis heute in den Produktionen vieler anderer Gitarristen hörbar, bis hin zu offen epigonalen Projekten wie dem des Duos „Naked Ear“ von 1993. Musikalische Beiträge der Originale Kolbe und Illenberger finden Musikarchäologen unter anderem auf Alben von Thommie Bayer, Anne Haigis, Volker Kriegel, Volker Rebell, Büdi Siebert, Hannes Wader und der Politrock-Band Cochise. YouTube hält Videos aller neun Stücke des Rockpalast-Auftritts von 1979 bereit. Und womöglich lassen sich die inzwischen gereiften Herren eines Tages dazu überreden, eine „Extended Edition“ von „Live KID“ aufzulegen … 


Jetzt aber füllt die vorliegende Sammlung endlich eine schmerzliche Lücke in der digitalen Musiksammlung mit dem Besten aus dem Gesamtwerk von Kolbe und Illenberger, mit Bedacht ausgewählt und sorgfältig remastered. Die vielen unvergessenen Stücke haben es verdient.

In allen Stilarten gibt es zeitlose Musik, die es vermag, immer wieder neue Generationen zu faszinieren und zu inspirieren – wie die Kompositionen von Martin Kolbe und Ralf Illenberger, den Unvergleichlichen mit der Fähigkeit zum musikalischen Verschmelzen, die sie berühmt gemacht hat.

Jemand bemerkte einmal, ihre Musik wecke spontan den Wunsch, mit Martin und Ralf befreundet zu sein. Liebes Publikum, das lässt sich einrichten – die Freundschaft kann hier und jetzt mit diesem Doppelalbum beginnen. Und das Schönste: Sie wird sich nie abnutzen.

„Ich glaube, da ist eine Art Seele oder Wahrheit drin, die die Zeit überdauert“, meinte Martin unlängst.

Oder war es Ralf? 


Thomas Östreicher